„Diakonie neu denken“

Liebe Mit-Teilnehmer,
dies ist kein Protokoll. Ich darf einfach einen persönlichen Tagungsbericht verfassen. Ich hoffe, die eine oder andere Beschreibung/Erfahrung lässt bei Euch schöne Erinnerungen anklingen.
Ich möchte zunächst kurz was zum Tagungsort erzählen. Wir waren bei „Haus & Gast“ auf dem Gelände der Theologischen Hochschule Elstal untergebracht. Was für ein besonderer Ort vor den Toren Berlins! Hier spürt man den Atem der Geschichte. Nur wenige Fußminuten führen an den ellenlangen Zaun, der große Teile des ehemalige Olympische Dorfs von 1936 umgibt. Wer „Olympia“ von Volker Kutscher verschlungen hat, wird sich für diesen Ort interessieren. Und andere vermutlich auch.

Das Olympische Dorf war nach den Spielen für die Wehrmacht vorgesehen. Die meisten Gebäude des baptistischen Bildungszentrums sehen aus wie kleine Kasernen, weil sie als Offiziershäuser gebaut wurden. Nach dem zweiten Weltkrieg ist dann aber für lange Zeit die Rote Armee dort eingezogen.
Anfang der Neunziger kauften die Baptisten das Gelände. In den aufwändig renovierten Kasernen-häusern werden heute Studenten und Gäste untergebracht. Dazu sind moderne Gebäude wie die Theologische Hochschule oder Mensa, Bistro und Gästebüro entstanden. Das Gesamtbild ist stimmig und enorm großzügig. Es ist viel Platz für Wiesen, Bäume, Büsche und Sitzgruppen.

Die Konferenz startete am 8. September mit dem Abendessen. Wie üblich zu solchen Anlässen gab es ein großes Hallo: Wie cool, dass du auch da bist! – Schön, dich wiederzusehen! – Wie ist es dir ergangen seit der letzten Konferenz 2019 in Georgien? – Lange nicht gesehen…
Oder auch, so in Gedanken: Hey! Wer ist denn das Interessantes? Muss ich unbedingt raus finden…
Und natürlich gab es nach dem Abendessen die erste Sitzung. Es war wirklich eine „Europäische“ Konferenz. Die Teilnehmer und ihre zugehörigen Werke kamen aus Estland, Georgien, der Schweiz und Tschechien – die meisten aus Deutschland. In dieser ersten Sitzung haben sich alle vorgestellt. Da gab es natürlich viele wichtige Inputs und so einige Führungspersönlichkeiten, die was zu sagen hatten. Mir ist Folgendes besonders im Gedächtnis:

  1. Die Bethesda Schwesternschaft aus Wuppertal war bereits Anfang März in der Lage, zwanzig ukrainische Flüchtlinge spontan und unbürokratisch aufzunehmen und sogar selbst an der Grenze abzuholen. „Das ist ein Vorteil unserer kleinen Truppe“, sagte Schwester Elisabeth. „Wir können schnell handeln, wenn die Not das erfordert.“
  2. Schwester Roswitha von Martha-Maria berichtete von der Antirassismus-Kampagne des Diakonie-werkes. Und von der Öffnung des Feierabendhauses nach außen, zum Beispiel für Friedensgebete. So eine Offenheit alt gewordener Diakonissen für Neues finde ich bemerkenswert super.
  3. Ines und Daire aus Estland stellten uns das Lebenskreiszentrum in Tartu vor, das Mitte Oktober eröffnet werden soll. Wir staunten über den Mut, viel Geld in die Hand zu nehmen, um ein komfortables Pflegeheim ganz neu zu starten.
  4. Aus Georgien, einem Land mit 3,5 Millionen Einwohnern, – also leben dort weniger Menschen als in Berlin – berichtete Ilja: „Mein Land hat ungefähr 40.000 Flüchtlinge aus der Ukraine aufge-nommen. Für diese ist die staatliche Unterstützung seit Juli 22 weggefallen. Unser Werk BETELI nimmt im großen und kleinen Saal so viele Flüchtlinge auf wie möglich. Leider ist das Haus in die Jahre gekommen und wir müssen dringend renovieren.“
    Diese Not rührte Steffie von TABEA so sehr, dass sie spontan eine Geldsammlung unter uns Konferenzteilnehmern initiiert hat. Am Ende konnte Ilja einen ordentlichen Betrag für BETELI mitnehmen.

Mein Fazit des Abends: Diakonie neu denken – auch im Sinn von „sich spontan von Not anrühren lassen“ – funktioniert in der Praxis bereits im EVFD.

Am Freitagmorgen startete ein arbeitsreicher Tag mit einer inspirierenden Andacht. Ilja las uns Epheser 5,15-16. Sein wiederholter Appell an uns lautete: „Heute – nicht morgen.“ Und mit den gewählten Beispielen traf er immer wieder mitten ins Herz.

Dann folgte ein erster hochkarätiger Vortrag. Unser Referent Dr. Heinz Rüegger (www.heinz-rueegger.ch) sprach zum Thema „Diakonie mit weitem Horizont“. Der Untertitel „Wider die Versuchung einer christlichen Engführung von Diakonie“ verhieß Spannendes. Und so war der Vortrag dann auch. Im Folgenden ein paar meiner Notizen dazu:

Helfen ist allgemein menschlich. Auch in der Mitmenschlichkeit von Nichtchristen scheint die Menschenliebe Gottes auf. (schöpfungstheologischer Ansatz) Es gibt kein christliches Monopol der Nächstenliebe.
Der Glaube ist für Christen die motivierende Kraftquelle, andere Menschen haben andere Motivationsquellen.
Diakonie kann auf fragwürdige Abgrenzungen verzichten, mit weitem Horizont arbeiten und in einer pluralistischen Gesellschaft ohne Angst mit Nichtfrommen zusammen arbeiten. Die Versuchungen der Diakonie:


  1. Theologische Überhöhung der eigenen christlichen Fähigkeiten und der eigenen Qualität des Helfens.

  2. Überhebliche Abwertung der Fähigkeit und Qualität des Helfens ohne Glauben.

  3. Höherbewertung religiöser Formen des Helfens gegenüber alltäglichen Formen.


Partout anders sein wollen ist kein sinnvolles diakonisches Programm und keine glaubwürdige christliche Haltung.
Diakonie ist kein Werbemittel für den christlichen Glauben – die Not des Anderen darf nicht für die eigene Message instrumentalisiert werden.


Ich habe Herrn Dr. Rüegger sehr gerne zugehört und finde seine Gedanken nicht nur für „Diakonie-Profis“ wichtig, sondern für mein ganz privates Christenleben.

Bei dem zweiten großartigen Vortrag des Tages dachte ich am Ende dasselbe. Obwohl der Titel „Werte für die Medizin“ lautete, hat mich Prof. Dr. Med Giovanni Maio (https://de.wikipedia.org/ wiki/Giovanni_Maio) ganz persönlich angesprochen und herausgefordert. Auch dazu ein paar meiner Notizen:

Es gibt keine Ethik ohne Menschenbild. Wenn der Mensch der „Macher der Welt“ ist, resultieren daraus andere Werte, als wenn man glaubt, „das Eigentliche des Menschen ist Verletzlichkeit“. Wonach ruft der verletzliche Mensch? Nach einem Sorgeverhältnis, nicht nach einem Dienstverhältnis.


Was macht aus einer Verrichtung eine Sorge?

  1. Sorge startet mit Haltung, nicht mit Handlung. Tätige Hilfe vor dem Hintergrund der Ungleichgültigkeit.

  2. Sorge ist eine Antwort. Die Not ruft – nicht ich. „Von seiner Sorge aus auf ihn hin.“ Sorge ist nicht Pflicht, sondern Verantwortung.

  3. Die Sorge geht mit dem Anderen. Es kommt zu einer „Strebensgemeinschaft“.

  4. Sorge ist eine Entwicklungsaufgabe, die Wachstum ermöglicht.

  5. Sorge zeichnet sich durch situative Kreativität aus. Sie ist nie allgemein, nur konkret. Feinsinn ist gefordert, nicht Standard.

  6. Sorge ist unbeirrbar, treu, beständig, unerschütterlich. Sie ist Begleitung.

  7. Die Sorge spricht, ist eine Geste, stellt sich zur Verfügung für den Anderen. Zum „Tun“ gehört das „Dasein“, um Sorge zu sein.

  8. Bevormundung hat bei Sorge nichts verloren.

Werte, die sich aus dem Menschenbild der Verletzlichkeit und einer darauf antwortenden Sorgekultur ergeben: Zuhören wollen, Offenheit und Geduld. Es geht nicht zuerst darum, zu wissen, was ein Mensch hat, sondern darum, zu wissen wer er ist.

Als Begleitperson durfte ich mich beim Nachmittagsprogramm ausklinken. Während des Abendessens und auch noch später konnte ich aber hören, dass es ein guter Nachmittag war. Sowohl der Vortrag von Prof. Dr. Ralf Dziewas (https://www.th-elstal.de/personen/kollegium/prof-dr-ralf-dziewas/) als auch die Workshops haben großen Anklang gefunden.

Ein Busfahrer und ein Pfarrer kommen in den Himmel. Petrus lässt den Busfahrer eintreten, der Pfarrer muss draußen warten. „Wieso wird der Fahrer bevorzugt?“ fragt der Pfarrer. Petrus erklärt: „Wenn du gepredigt hast, haben die Leute geschlafen, aber wenn er gefahren ist, haben sie gebetet.“
Mit diesem Witz begrüßte „Reiseleiter“ Stefan Stiegler uns Samstagmorgen an Bord unseres Reise-busses auf der Fahrt nach Berlin. Unser Fahrer wusste also gleich, dass er es mit einem fromm-fröhlichen Trupp zu tun hatte. Er brachte uns nach einem Stündchen Fahrtzeit mitten nach Berlin in die Reinickendorfer Straße. Dort befindet sich die Diakonie Akademie für Gesundheit und Soziales im Evangelischen Geriatriezentrum, Berlin-Wedding (EGZB). Das Anwesen – das ist es wahrhaftig: wunderschöne Gebäude, ein großer Park bevölkert von Eichhörnchen – gehört zur Johannesstift Diakonie. Eine Oase der Ruhe und Gediegenheit mitten im quirligen Berlin! Es dauerte ein wenig, bis wir dort aussteigen konnten. Die enge Einfahrt war eine große Herausforderung für den Riesenbus. Für eine Weile legten wir den Verkehr in eine Richtung komplett lahm. Wir steckten vor der Einfahrt fest. Der pfiffige Fahrer fand dann aber doch eine Lösung und passierte die schmale Einfahrt schließlich unter großem Applaus.

Der leitende Theologe der Diakonie, Pastor Dr. Werner Weinhold, nahm uns dann mit auf eine „Lernreise“. Er erklärte den „Kulturentwicklungsprozess für Führung“, den die Johannesstift Diakonie bisher gegangen ist. Alle von uns, die dabei waren, werden sich mit Hilfe der „Taschenkarte“ gut an seinen Vortrag und den Kurzworkshop erinnern. Ich erinnere mich auch gerne an das grandiose „Snack-Catering“. Alle Häppchen und Gläschen waren ausgesprochen lecker und originell. Das hatte Stil. Nicht, dass das Essen bei „Haus & Gast“ nicht auch schmackhaft ist. Aber dieses kleine, feine Büffet in der Akademie war besonders.

Und dann gab es beim Nachmittagsprogramm noch mal Kaffee und Kuchen! Der Busfahrer entließ uns an der Cantianstrasse mitten im Prenzlauer Berg. Dort ist die baptistische ZOAR-Gemeinde, die wir nach kurzer Besichtigung verließen, um Einrichtungen der Immanuel-Albertinen Diakonie zu Fuß in drei Gruppen zu besuchen – eine Beratungsstelle und die Tagestätte für Obdachlose. „Nebenbei“ passierten wir auch andere Highlights vom Prenzlauer Berg. Was war das schön, bei Sonne und milden Temperaturen in der pulsierenden Hauptstadt unterwegs zu sein! Nach der schon erwähnten Stärkung brachte uns der Bus schließlich nach Potsdam. Die Route ging durch den Grunewald und wir konnten die Villen und „Häuschen“ dort gebührend bewundern.

Um 18.00 startete am Potsdamer Hafen das „Herz-Seelen-Highlight“ unserer Konferenz. Wir befuhren mit einem exklusiv gebuchten Schiff die Havel bis zum großen Wannsee. Vorbei an schönen Villen, an Babelsberg, der Pfaueninsel, unter der Glienicker Brücke hin und her. Unter Deck gab es ein gutes Kalt-Warm-Buffet an schön gedeckten Tischen mit Stoffservietten. Da der Abend – entgegen aller Wettervorhersagen – trocken, windstill und „strickjackentauglich“ war, genossen viele von uns das Essen outdoor. Wir erlebten, wie der Himmel sich grandios wandelte: Rosarot gefärbte Wolken-bilder, Übergänge von Dämmerung zur Dunkelheit – es war wunderbar. Soviel Schönes zu sehen, dabei ein guter Wein und immer wieder Schmausen vom Buffet – ein Stück Himmel auf Erden!
Himmel auf Erden – das sind auch gute, tiefgehende Gespräche mit lieben Menschen. Die ergaben sich auf der Konferenz ganz von selbst und immer wieder. Natürlich auch am Ende jeden Tages im Bistro von Haus & Gast in Elstal. Reflexion der Vorträge und Erlebnisse, persönliche Freuden und Kümmernisse – alles kam vor, hatte seinen Raum und stärkte über das Fachliche hinaus persönliche Beziehungen.

Am Sonntagmorgen genossen alle verbliebenen Teilnehmer den Gottesdienst in der Baptisten-gemeinde Wannsee. Der war auch besonders! Alleine schon das Gebäude anzugucken und das Gesamtgelände mit Villa am Wasser zu erkunden. Und dann zu erleben, wie schwungvoll Stefan Stiegler in die Tasten haut. Sowohl an der Orgel als auch am Klavier kann er ja mal echt was! Zusammen mit seinem Sohn hat er z.B. das altbackene „Welch ein Freund ist unser Jesus“ zu einem wunderbaren „Mit-Schnipp-Song“ gemacht. Und dann die Predigt von „unserem“ Fredy Jorns! In Anlehnung an unser Konferenzmotto sprach er über „Glauben neu denken“. Ich fand seine Worte spannend, nachdenkenswert und herausfordernd.

So, liebe Leute. Das wars, was ich persönlich an unserer Konferenz bemerkenswert fand und für erinnerungswürdig halte. Schön ist es, euch alle zu kennen und die Erinnerung an diese Tage im September 2022 mit euch zu teilen.

Ich freue mich auf ein Wiedersehen in zwei Jahren – so Gott will und wir leben.
Bleibt behütet und gesegnet!

Herzlich
Kathi Warnke